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Anthony de Jasay: Justice and its Surroundings, reviewed by Gerard Radnitzky, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, November 10, 2003

Anthony de Jasay: Justice and its Surroundings, reviewed by Gerard Radnitzky

Gerecht und ungerecht

Anthony de Jasay räumt auf mit intellektuellen Konfusionen

Anthony de Jasay ist einer der interessantesten politischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er hat in Australien studiert, lehrte an der Oxford University, war dann Investmentbanker und ist nun Privatgelehrter in Frankreich. Über Jasays erstes Buch “The State” schrieb der amerikanische Nobelpreisträger James Buchanan, es sei für ihn eine Offenbarung gewesen. Trotz mittlerweile einer ganze Reihe von veröffentlichten Büchern gilt er freilich hierzulande noch immer als eine Art Geheimtip. Wenn man Jasay mittels eines angelsächsischen Etiketts charakterisieren wollte, böte sich “libertarian conventionalist” an: ein Ökonom der Österreichischen Schule, jedoch auf Grundlage einer soliden Erkenntnistheorie, im Gegensatz zum Apriorismus der Anhänger Ludwig von Mises’.

Er ist ein “Libertarian”, da er davon ausgeht, daß das Individuum im Prinzip frei ist, eine bestimmte Handlung auszuführen, solange es keine gültigen Einwände gegen diese Handlung gibt, und daß es der Gegenredner ist – also derjenige, der behauptet, es gebe gültige Einwande -,der die Beweislast trägt. Und er ist ein “Konventionalist” in dem Sinne, daß er eine Sozialordnung, die auf Vertragskonvention und Reputation (begründetem Vertrauen) aufbaut – “Ordered Anarchy” -, für eine praktikable Alternative zum Staat hält. Jasays Logik ist einwandfrei, sein Stil meisterhaft.

Der Titel des neum Buches beschreibt schon genau, worum,es geht. Die zentralen Essays, die sich mit Gerechtigkeit befassen, Bind umgeben von Essays, in denen Jasay die Umgebung der Gerechtigkeit untersucht: Topoi, die sich bei Diskussionen über Gerechtigkeit aufdrängen und die oft mit echten Gerechtigkeitsproblemen verwechselt werden. So behandelt der Autor im ersten Teil den Staat – und zwar gleich unter der programmatischen Überschrift “The Needless State”. Jasay bekräftigt Edmund Burkes Diktum: “Die Politik an sich ist der Mißbrauch.” Daraus folgt die Maxime: Man halte den Bereich des Politischen so klein wie möglich. Im zweiten Teil befaßt sich der Verfasser mit der Umverteilung (der staatlichen, zwanghaften) und führt damit zum zentralen Essay hin, “Justice”. Ihm folgt der vierte Teil, “Socialism”, und dann der fünfte, “Freedom”.

Im Kapitel zur Gerechtigkeit macht Jasay den Vorschlag, den vieldeutigen und vagen Begriff der Umgangssprache und der Politik durch einen Begriff zu ersetzen, der in rationalen Diskussionen ein besseres intellektuelles Instrument darstellt. Da der umgangssprachliche Gebrauch von “Gerechtigkeit” ein Musterbeispiel für den politischen Gebrauch der Sprache und daher entsprechend konfus ist, greift Jasay auf die philosophische Diskussion zurück.

Mit dem Prädikat “gerecht/ungerecht” werden individuelle Handlungen beurteilt. Als Leitmotiv dienen zwei Prinzipien: das aristotelische “jedem das Seine” und ‘gleiche Fälle gleich behandeln”. Die Verbindung von Handlung und Folgen (Belohnung oder Sanktion), von Handlungsfreiheit und Verantwortung, steht im Vordergrund. Das Individuum ist verantwortlich für sein Tun. Das Prinzip “jedem das Seinê” klingt beispielsweise an, wenn wir fragen, etwa im Fall des Vorstandsvorsitzenden eines Unternehmens: “Verdient er, was er verdient?” (Does he deserve what he earns?). Das zweite Prinzip ist unentbehrlich für rationale Erwartungen und daher für die Stabilität einer Gesellschaft. Aber was macht zwei Fälle “gleich”? Jasay führt vor Augen, daß das Problem darin besteht, die Kriterien für die Behauptung, daß zwei Fälle in relevanter Hinsicht gleich sind, zu legitimieren.

Das dem zentralen Essay vorausgehende Kapitel räumt auf mit Verschmutzungen der intellektuellen Umwelt des Begriffs “Gerechtigkeit” und mit den vielen Suggestivdefinitionen des Ausdrucks “gerecht”: Gerechtigkeit als etwas anderes als Gerechtigkeit – wie etwa Gerechtigkeit als “Fairness” (nach John Rawls), Gerechtigkeit als Unabweisbarkeit (non-rejectability, nach Thomas Scanlon), Gerechtigkeit als Unparteilichkeit (impartiality, nach Brian Barry). In Deutschland erfreut sich Rawls’ Theorie noch immer großer Beliebtheit, auch bei Ökonomen. Ihr substantieller Gehalt entspricht dem sozialdemokratischen Klima – in allen Parteien.

Die Rezeption von Rawls’ Theorie ist ein typischer Fall für eine Stelle, an der “Gerechtigkeit” in die soziale Umwelt eingreift. Der Ausdruck “gerechi” wird jetzt nicht mehr auf Handlungen angewendet, sondern auf Zustände. Damit wird ein völlig anderer Begriff als der ursprungliche untergeschoben. Der Zustand einer Gesellschaft, wird als “ungerecht” bezeichnet, weil er einem bestimmten, vorgefaßten normativen Ideal nicht entspricht. Mit einer auf dieser holistischen Gerechtigkeitsinterpretation basierenden Rhetorik wird die umverteilende Staatstätigkeit und die wachsende Steuerquote als Mittel dargestellt, mit dem man Ungerechtigkeiten beseitigen könne. Staatseingriffe bedeuten indes mehr Zwang und zeitigen meist nicht einmal gute Resultate, wenn beispielsweise die Mehrheit die Mitglieder der Verliererkoalition dazu zwingt, Vorhaben mitzufinanzieren, die sie selbst für wünschenswert halt (Kapitel 2: “Taxpayers, suckers, and free riders”).

Im zweiten Teil des Buches unter dem Titel “Umverteilung” (“Finanzausgleich”) ist ein Kapitel dem Arsenal an “Ungerechtigkeiten” gewidmet: “A stocktaking of perversities”. In die gleiche Richtung geht im dritten Teil über den Sozialismus das Kapitel “Market Socialism”, die Idee einer “sozialistischen Marktwirtschaft”. Da Handlung im vollen Sinn Freiheit voraussetzt, besteht das Risiko des Scheiterns, und manchem erscheint Freiheit als eine zweischneidige Sache. Das letzte Kapitel heißt denn auch: “The Bitter Medicine of Freedom”.

Die zeitgenössische politische Rhetorik kennt sogar eine “soziale Gerechtigkeit”, ohne zu fragen: Was macht denn eine bestimmte Art von Gerechtigkeit sozial? Und was macht die sogenannte soziale Gerechtigkeit zu einer Abart von Gerechtigkeit? Der Ausdruck erweist sich als Leerformel; ideologische Pfadfinder beeilen sich, die Worthülse mit Inhalt zu füllen. Man hört Politiker sogar von einer “Gerechtigkeitslücke” sprechen. Soeben forderte der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske öffentliche Investitionen auf Basis einer “gerechten” Besteuerung. Kurz, in der pseudomoralischen Machtpolitik spielt “Gerechtigkeit” eine wichtige Rolle. Jasays Buch hilft allen, die auf Biesem Gebiet klar denken wollen.