Politische Lehren können unterschiedlich interpretiert und verstanden werden, aber um Bestand und Erfolg zu haben, brauchen sie ein unabdingbares, konstantes Element, das ihre Identität ausmacht und sich auch nicht verändern darf, wenn sie ihren typischen Charakter nicht verlieren wollen. Der Nationalismus muss Souveränität einfordern, Verteidigung und womöglich Expansion eines Territoriums, einer Sprache und eines Volkes. Sonst wäre er kein Nationalismus, sondern etwas anderes. Der Sozialismus tritt in mancherlei Gewand auf, doch alle Varianten haben zumindest ein unveränderliches Element gemeinsam – die Überzeugung, dass aller Reichtum von der Gesellschaft und nicht von Einzelnen geschaffen wird. Die Gesellschaft darf den Reichtum entsprechend ihrem Gerechtigkeitsbegriff umverteilen. Die Forderung nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel und Gleichheit der Verhältnisse leitet sich von dieser Grundthese ab. Ein solch absolutes und unveränderliches Element hat der Liberalismus nie besessen. Er war stets eine lockere Lehre, in der heterogene Komponenten Platz hatten, fremde Ideen, die ihn beeinflussen und unterwandern konnten. Man könnte fast sagen, dass der Liberalismus sich nicht schützen kann, weil sein Immunsystem zu schwach ist.
Was heisst liberal?
Die gegenwärtige Verwendung der Begriffe «liberal» und «Liberalismus» ist symptomatisch für die breite Skala ihrer Bedeutung. Der «klassische» Liberalismus will möglichst wenig Staat, möglichst viel Laisser-faire, hat aber auch ein deutlich utilitaristisches Element, das sehr wohl einen aktiven Staat fordert. Themen des amerikanischen Liberalismus sind vor allem Rassenfragen, Homosexualität, Abtreibung, Drogen, «Rechte» ganz allgemein. Das angelsächsische «liberal» entspricht dem europäischen «sozialdemokratisch», und in Frankreich ist liberal gar ein pejorativer Begriff, wird oft als Schimpfwort gebraucht, und «Liberalismus» ist ein Sammelsurium von überholten Irrtümern, zu denen sich nur Dummköpfe oder Heuchler bekennen. Diese unterschiedlichen Interpretationen haben nicht viel gemeinsam. Aber das ist nicht weiter überraschend.
Dass der Liberalismus sich nicht eindeutig definieren lässt, erklärt sich aus seinen Ursprüngen. Er gründet auf der Freiheitsliebe. Freiheit ist ein Wert, den wir alle hochhalten. Das ganze Gebäude des Liberalismus ruht auf diesem verständlichen Werturteil. Freiheit ist aber nicht der einzige Wert, ja nicht einmal der einzige politische Wert. Sie hat viele Rivalen – Sicherheit von Individuum und Eigentum, Sicherheit der Subsistenz, diverse Gleichheiten, Schutz des Schwachen vor dem Starken, Fortschritt von Wissenschaft und Künsten, Ruhm und Anerkennung. Die Liste liesse sich endlos fortsetzen. Viele, wenn nicht all diese Werte sind nur um den Preis eingeschränkter Freiheit zu verwirklichen. Es widerspricht dem liberalen Geist der Toleranz und Freiheitsliebe, diese Werte zu verneinen und dem Einzelnen das Recht abzusprechen, selbst um den Preis eingeschränkter Freiheit an einigen dieser Werte festzuhalten. Freiheitsliebe ist mit Kompromissen durchaus zu vereinbaren. Auf wie viel Freiheit man verzichtet, um ein bestimmtes Mass an Sicherheit oder Gleichheit zu erreichen oder andere sinnvolle Dinge, die zumindest einige Leute anstreben, ist natürlich ganz subjektiv. Da steht Meinung gegen Meinung, diese Differenzen sind legitim. Von daher neigt der Liberalismus dazu, konkurrierenden Werten Raum zu lassen, sie zu integrieren. Am Ende kommt eine beliebige Melange dabei heraus, die jedem etwas bietet.
Die Schädigungsthese
Drei einflussreiche Theoretiker des klassischen Liberalismus – Jeremy Bentham, James Mill und John Stuart Mill – haben diese Entwicklung geprägt. Sie erhoben das allgemeine Stimmrecht und das Wohlergehen möglichst vieler Menschen zu einem Grundprinzip der politischen Moral und stellten auf diese Weise eine völlig willkürliche, wenn nicht widersprüchliche Beziehung zwischen Demokratie und Liberalismus her. Diese Beziehung, die inzwischen als selbstverständliche Wahrheit gilt, wird im modernen politischen Diskurs gebetsmühlenartig wiederholt und trägt viel zur Sinnentleerung des Liberalismus bei.
Auch an den utilitaristischen Tendenzen im Liberalismus sind die erwähnten Theoretiker nicht ganz unschuldig. Liberale Politik wollte in allen Richtungen verbessernd eingreifen. Es mangelt ja nie an trefflichen Ideen, wie sich eine Gesellschaft durch Reformen und Veränderungen verbessern lässt, durch neue Gesetze und Bestimmungen, vor allem aber durch eine ständig angepasste Umverteilung von Reichtum, die immer mehr Nutzen bringen soll. John Stuart Mill weist darauf hin, dass die Schaffung von Reichtum zwar wirtschaftlichen Gesetzen unterliege, seine Verteilung aber von der Gesellschaft organisiert werden müsse. Nach dem Nützlichkeitsprinzip sei das nicht nur legitim, sondern sogar unerlässlich, da nur auf diesem Wege grösstmögliches Wohlergehen erreicht werde. Dieses Streben ist natürlich ein sicheres Rezept für ein Maximum an Staat.
Viele Vertreter des klassischen Liberalismus interpretieren Mills berühmte Schädigungsthese aber als Schutz vor ebendieser Tendenz utilitaristischen Denkens. Mill sagt: «Der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmässig ausüben darf, ist der: die Schädigung anderer zu verhüten.» Was eine Schädigung ausmacht und ein Eingreifen des Staates rechtfertigt, ist freilich eine subjektive Angelegenheit. Es gibt einen grossen Bereich von vermeintlichen oder realen Verhältnissen, in denen manche eine Intervention des Staates für legitim halten, während andere einfach von simplen Fakten sprechen, die zum Leben gehören und sich von ganz allein regeln. Die Schädigungsthese wird immer weiter ausgedehnt. Heute heisst es: Wird dem Einzelnen nicht geholfen, erleidet er Schaden. Moderne politische Philosophen wollen, unter Berufung auf dieses Prinzip, den Staat dazu verpflichten, die Reichen zu zwingen, all jenen zu helfen, denen durch unterlassene Hilfe ein Schaden entstehen würde. Es mag einleuchtende Argumente dafür geben, manche Menschen zu zwingen, anderen zu helfen, aber als typisch liberal dürfte das wohl kaum durchgehen.
Das Gesetz der Unterwerfung
Die Auswirkungen guter Absichten bieten oft Anlass zu bitterer Ironie. Locke versuchte, mit seinem harmlos anmutenden Vorbehalt die Rechtmässigkeit des Eigentums zu beweisen, und schwächte doch nur dessen moralische Grundlage. J.S. Mill sah sich als Verteidiger der Freiheit, legte ihr aber nur Fesseln an.
Wenn sich der Liberalismus von Sozialismus, prinzipienlosem Pragmatismus oder simpler Ad-hoc-Beliebigkeit unterscheiden will, muss er auf eine andere Grundlage gestellt werden. Der Liberalismus muss strikter formuliert werden, damit er sich besser gegen das Eindringen fremder Elemente wehren kann.
Meiner Ansicht nach genügen zwei Grundthesen (eine logische und eine moralische), um einen neuen, strikteren Liberalismus aufzubauen, der seine Identität verteidigen kann. Das eine ist die Freiheitsvermutung, das andere die Ablehnung der Gesetze der Unterwerfung, die die Pflicht zum politischen Gehorsam implizieren.
Unter Freiheitsvermutung verstehe ich, dass jede beabsichtigte Handlung als frei zu gelten hat (und staatlicherseits nicht geregelt, besteuert oder bestraft werden darf), solange nicht nachgewiesen werden kann, dass sie nicht frei ist.
Manche behaupten, dass es eine solche Vermutung nicht gibt bzw. nicht geben sollte. Es geht hier aber nicht um eine Frage, über die man unterschiedlicher Meinung sein kann. Die Freiheitsvermutung folgt logisch aus dem Unterschied zwischen zwei Methoden, die Gültigkeit einer Aussage zu prüfen – also Falsifizieren und Verifizieren.
Das Anspruchsdenken
Es kann unendlich viele potenzielle Gründe geben, die gegen eine bestimmte Handlung sprechen. Manche mögen hinreichend, gültig sein, andere (vielleicht alle) mögen unzureichend, unbegründet sein. Man kann sie der Reihe nach widerlegen. Aber es werden immer einige übrig bleiben, und man wird nie beweisen können, dass keine mehr übrig sind. Mit anderen Worten: Die Aussage, diese oder jene Handlung wäre schädlich, ist nicht falsifizierbar. Insofern widerspräche es jeder Logik, wenn man die Schädlichkeit der Handlung beweisen müsste. Dagegen ist jeder mögliche Einwand gegen die fragliche Handlung verifizierbar. Wenn solche Einwände bestehen, ist es an den Kritikern, zu beweisen, dass ihre Einwände ein Verhindern der Handlung tatsächlich rechtfertigen.
All das klingt furchtbar einfach und banal. Einfach ist es wohl, aber nicht banal. Im Gegenteil, es ist von entscheidender Bedeutung für die Beschaffenheit des intellektuellen Klimas, der «Kultur» einer politischen Gemeinschaft. Die Freiheitsvermutung muss entschieden bekräftigt werden, und sei es nur als Antidot gegen die Verbreitung jenes Rechtsanspruchs, der dem Freiheitsbegriff entgegensteht und ihn untergräbt und der so sehr zu einer Verzerrung und Schwächung des Liberalismus in den letzten Jahrzehnten beigetragen hat. Diesem Anspruchsdenken zufolge haben die Menschen das Recht, bestimmte Dinge zu tun, und bestimmte andere Dinge dürfen ihnen nicht angetan werden. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass diese Rechte die Ausnahmen einer stillschweigend akzeptierten allgemeinen Regel sind, wonach alles andere verboten ist. Andernfalls wäre es überflüssig und sinnlos, das Recht auf freie Handlungen zu verkünden. Die Dummheit, die dieser Haltung zugrunde liegt, und ihre erschreckende Wirkung auf das politische Klima zeigen, wie weit sich die Beliebigkeit des zeitgenössischen liberalen Denkens von einem strengen Gebäude entfernen kann, das der Sache der Freiheit dient, statt sie in bombastischem Wortgeklingel zu erdrücken.
«Der König hat seinen Willen ausgedrückt, die Untertanen haben sich seinem Willen zu beugen» ist ein Grundsatz der Unterwerfung. Das gleiche Prinzip galt für die Bürger von Venedig, die der Signoria gehorchen mussten, welche der Legislative die Macht gab, Gesetze zu erlassen, während eine Mehrheit von Wählern die Gesetzgeber wählen konnten. Das eine ist «demokratischer» als das andere, aber für alle gilt: Alle Mitglieder einer Gemeinschaft müssen sich den Entscheidungen nur eines Teils dieser Gemeinschaft beugen, und zwar gewissermassen schon im Voraus, noch ehe feststeht, wie diese Entscheidungen konkret aussehen.
Dass dies für das praktische Funktionieren eines Staates notwendig ist, lässt sich vernünftig begründen. Es mögen gute Gründe sein, aber es ändert nichts daran, dass wir es mit einem unerhörten Grundsatz zu tun haben. Unterwerfung ist moralisch vertretbar, wenn sie freiwillig erfolgt, und freiwillige Unterwerfung rational denkender Individuen ist von Fall zu Fall vorstellbar. Als allgemeiner Grundsatz, der auf das Ausstellen eines Blankoschecks hinausläuft, kann Unterwerfung weder freiwillig noch rational sein. Wenn das Regieren eine allgemeine Unterwerfung erforderlich macht, was durchaus möglich ist, dann erweist sich die Legitimation der Regierung, jeder Regierung, als moralisch unhaltbar.
Eigentum und Versprechen
Heisst das, dass strenge Liberale ihre jeweilige Regierung nicht als legitim akzeptieren können, sondern im Grunde für Anarchie eintreten? Logischerweise muss die Antwort beide Male ja lauten, aber es ist ein Ja, das in seinen praktischen Konsequenzen zwangsläufig beschränkt wird durch die Realität der sozialen Gegebenheiten.
Gesetze und Vorschriften können geregelte soziale Praktiken vorschreiben, damit ein halbwegs vernünftiges und friedliches Miteinander erreicht wird. Tatsächlich sind viele unserer Praktiken heute geregelt – viele, aber nicht alle. Einige wichtige und viele weniger wichtige, aber nützliche Dinge werden durch Übereinkunft geregelt.
Anders als Gesetze, die befolgt werden müssen, sind diese Konventionen freiwillig. Es handelt sich um ein spontanes, von allen Beteiligten akzeptiertes Gleichgewicht, von dem niemand abweichen kann, weil er sich vielleicht einen Nutzen davon verspricht, da er mit Bestrafung durch die anderen rechnen muss. Anders als Gesetze, denen staatlicherseits Geltung verschafft wird, gründen Konventionen auf Selbstüberwachung. Dank ihrer Freiwilligkeit ist ihr moralischer Status gesichert.
David Hume war der erste grosse Philosoph, der Konventionen ganz allgemein definiert hat, vor allem zwei besonders wichtige, Eigentum und Versprechen. Hayeks «spontane Ordnung» ist im Sinne einer solchen Konvention zu verstehen. John Nash hat die Natur sich selbst überwachender Konventionen dargelegt, und jüngere Entwicklungen der Spieltheorie zeigen, dass konfliktbehaftete Kooperationsprobleme, die früher als «Dilemma» galten und staatliches Eingreifen erforderten, in Konventionen potenzielle Lösungen haben.
Ein immer unangenehmerer Staat
Man kann leicht plausible Szenarien beschreiben, in denen sich spontane Konventionen herausbilden, die dem Schutz der Beteiligten dienen. Solche Szenarien stehen auf einem leeren Blatt, aber in Wahrheit ist die Seite schon längst mit dem gefüllt, was die Vergangenheit darauf geschrieben hat. Im Abendland haben mindestens zwei Jahrhunderte mit immer mehr Gesetzen, Regeln, Steuervorschriften und staatlichen Versorgungseinrichtungen (das heisst Rückgriff auf das Prinzip der Unterwerfung) dazu geführt, dass sich die Menschen auf den Staat verlassen. Die Gesellschaft braucht die alten Konventionen nicht mehr, ihre Fähigkeiten, alte Konventionen zu pflegen und neue zu entwickeln, sind geschwunden.
Angesichts dieser Tatsache steht kaum zu erwarten, dass der Staat verschwindet und einer geordneten Anarchie Platz macht. Sehr viel eher dürfte sich ein anderer, möglicherweise unangenehmerer Staat herausbilden.
Dies begrenzt die praktischen Möglichkeiten eines strikten Liberalismus. Trotz der Logik der These, dass der Staat im Grunde nicht notwendig ist, und obwohl eine geordnete Anarchie sehr reizvoll erscheint, lohnt es sich kaum, für die Abschaffung des Staates einzutreten. Aber es lohnt sich, immer wieder seine Legitimität in Frage zu stellen. Die fromme Lüge vom Gesellschaftsvertrag darf nicht dazu führen, dass der Staat den Gehorsam seiner Bürger allzu sehr als Selbstverständlichkeit voraussetzt. In der Demokratie gibt es einen eingebauten Mechanismus, wonach sich der Staat durch missbräuchliche Verwendung des Unterwerfungsgrundsatzes Unterstützung erkauft. Der lockere Liberalismus nennt das soziale Gerechtigkeit. Der strikte Liberalismus kann diese staatlichen Übergriffe Schritt für Schritt bekämpfen, überall dort, wo es noch schützenswerte private Bereiche gibt und vielleicht sogar Bereiche staatlichen Handelns reaktiviert werden können.
Der Ökonom und Unternehmer Anthony de Jasay war Professor an der Universität Oxford. Seit seiner Emeritierung widmet er sich Fragen der politischen Philosophie.
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork